Die 1920er Jahre. Ein von Kerzenlicht mäßig erhellter Salon. Menschen sitzen im Kreis um einen Tisch und berühren sich an den Händen. Das Medium befindet sich in Trance. Ehrfurchtsvolles Schweigen und gespannte Erwartung beherrschen den Raum: Wie lange wird es dauern, bis sich die Geister der Verstorbenen melden? Da plötzlich – ein zaghaftes Klopfen! Noch eines! Der Kontakt ist hergestellt.
Typisches Setting einer spiritistischen Sitzung
So in etwa haben sich Séancen vor und nach der letzten Jahrhundertwende überall auf der Welt abgespielt … und auch Graz hatte sein eigenes Medium: Maria Silbert, die “Seherin von Waltendorf”. Sie wurde am Heiligen Abend 1866 in Friesach / Kärnten geboren und hatte ihre Gaben scheinbar von ihrer Großmutter vererbt bekommen (die ihrerseits im Ruf einer Hellseherin und Gesundbeterin stand und sogar in der eigenen Familie als “unheimlich” verschrieen war). Ihre zutiefst katholische Familie mußte natürlich auch annehmen, daß die kleine Maria log, wenn sie erzählte, Elfen und Zwerge oder eine Hand an ihrem Bett zu sehen. Dennoch trat sie in die Fußstapfen ihres Vaters und wählte denselben Beruf wie er: Sie besuchte die Lehrerbildungsanstalt in Klagenfurt und erhielt danach ihre erste Anstellung in Krakaudorf. Dort lernte sie auch ihren zukünftigen Ehemann, den Finanzbeamten Gustav Silbert, kennen und zog mit ihm 1916 schließlich nach Waltendorf bei Graz, wo sie in der Schörgelgasse wohnten (Waltendorf wurde erst 1938 in Graz eingemeindet).
Maria Silbert (1866-1936). Klick für Quelle!
Maria Silbert brachte zehn Kinder zur Welt; einer ihrer Söhne starb, ein anderer fiel im Ersten Weltkrieg und nicht lange danach starb auch noch ihr Mann. Sie fand Halt im Glauben und begann erste abendliche Sitzungen in ihrer Wohnung abzuhalten, noch in den letzten Monaten des Krieges. Diese sollten schnell berühmt werden: Ihr Ruf als Medium verbreitete sich, und von überall her strömten Ratsuchende in die Schörgelgasse, um mit Verstorbenen in Kontakt zu treten. Angesehene Grazer Familien bildeten eigene Zirkel, um Madame Silbert gegen Bezahlung in ihr Haus zu beten; auch Priester sollen immer wieder zugegen gewesen sein. Ein Beispiel für die Erscheinungen in solchen Sitzungen ist etwa die Gestalt in Uniform, die von den Teilnehmern neben einer gewissen Frau W. stehend gesehen wurde, welche ihnen dann erzählte, daß sie das Gefühl hätte, ihr seit einem Jahr vermißter Sohn wäre bei ihr; sie fühlte sogar, wie er sie auf den Nacken küßte, so wie er es immer zu tun pflegte.
Bei Maria Silberts Séancen kam es außerdem zu Lichterscheinungen (bläuliche und hellgrüne Funken und Blitze) und Psychokinese, vor allem aber hatte sie einen “Kontrollgeist aus dem Jenseits” namens Neil oder Nell (zu Lebzeiten angeblich ein gewisser Franciscus Cornelius, ein Nürnberger Gelehrter des 17. Jahrhunderts), der mittels rhythmischer Klopfzeichen kommunizierte und auf diese Weise vielen Menschen geholfen oder sie vor einem Unglück bewahrt haben soll. Seine Klopflaute “wanderten” nicht nur – d. h. sie erklangen aus dem Tisch, dann wieder aus der Wand oder aus Einrichtungsgegenständen –, er diktierte damit auch deutsche, hin und wieder auch lateinische Antworten … besonders gern auf religiöse Fragen. Nicht umsonst waren ja katholische Geistliche immer wieder Teilnehmer der Séancen. 1922 manifestierte sich Nell nach der Anfrage eines Teilnehmers während einer Sitzung, indem sein Gesicht in weichem Ton abgedrückt wurde – deutlich erkennbar mit Spitz- und Schnurrbart. Oft erschien nach der Séance der Schriftzug “Nell” als “okkulte Gravierung” oder Schrift auf Taschenuhren, Trinkbechern, Fotografien u. Ä., wobei der Vorgang des Gravierens nie beobachtet werden konnte: Die Gegenstände dematerialisierten und apparierten wieder mit Schriftzug – entweder befanden sie sich dann plötzlich in der Hand ihres Besitzers oder fielen mit Getöse auf den Tisch. Berühmt ist der Fall eines “Nell”-Schriftzugs, der in den Innendeckel einer während der ganzen Zeit über geschlossenen Taschenuhr graviert worden war.
Selbstdarstellung von Nell. Klick für Quelle!
Einmal hörten die Teilnehmer lautes Atmen und jeder einzelne von ihnen spürte danach, daß er geschlagen wurde. Danach hatten alle das Gefühl, von einem Regenguß überschüttet zu werden, obwohl sie sich in einem Zimmer befanden. Auch Frau Silberts Hund war während dieser Séance im Raum und winselte erbärmlich. Nachdem die Lichter wieder angemacht wurden, war er genauso durchnäßt wie die Teilnehmer! Es heißt, daß Nell diese Séance nicht überwacht und das Medium auch davor gewarnt hatte, daß Probleme entstehen würden, wenn die Sitzungen für leichtfertige Zwecke mißbraucht würden.
Besonders häufig traten auch seltsame Berührungen auf: Mehrere Teilnehmer spürten, oft gleichzeitig und auch bei strenger Kontrolle der Extremitäten Frau Silberts, sogenannte “Tupfer”, ja manchmal sogar ein regelrechtes Zupacken an Knie und Unterschenkel. Manche dieser “Tupfer” waren offenbar auch Teil der “wandernden” Klopflaute. Andere wiederum berichteten, daß der schwere Eichentisch, um den sie saßen, plötzlich in mehreren Zentimetern Höhe schwebte. Manchmal kam es zu Materialisationen einer Hand, eines Fingers oder einer nebelartigen Substanz (Ektoplasma?), wobei die Zimmertemperatur merklich abkühlte und einige Teilnehmer einen “Kraftentzug” registrierten. Auch außerhalb der Sitzungen und unter freiem Himmel traten manche dieser Phänomene auf.
Anscheinend wurden ihre Fähigkeiten 1928 sogar von der renommierten Society for Psychical Research genauer unter die Lupe genommen. Dazu wurde sie während einer spiritistischen Sitzung in einen Sack eingenäht, mit Handschellen gefesselt und simultan aus mehreren Blickwinkeln fotografiert. Mehrere Bühnenmagier und Wissenschaftler überwachten das Ganze. Man mußte ihr zugestehen, daß einige Phänomene zwar interessant und nicht erklärbar seien, beschuldigte sie aber dennoch des Betrugs.
Maria Silbert. Klick für Quelle (wo auch ein “Nell”-Namenszug dargestellt ist)!
Denn dort wo‘s Wunder gibt, treten schnell die Skeptiker auf den Plan. Als wichtigster Silbert-Kritiker etablierte sich der damalige Professor für Experimentalphysik an der Grazer Universität, Hans Benndorf. 1924 gab er eine Denkschrift namens Die geheimnisvollen Kräfte der Frau Maria Silbert heraus; sie enthielt sechs Protokolle von Steirern, die an ihren Séancen teilgenommen hatten und insbesondere über die “Tupfer” an Knie und Unterschenkel berichteten, die ihrer Aussage nach aber vom Medium selbst hervorgerufen worden waren: “Und richtig sah auch ich bald die Erscheinung. Ganz automatisch, ohne es eigentlich gewollt zu haben, bückte ich mich rasch, griff zu – und siehe da, zu meiner größten eigenen Überraschung hatte ich den mit einem weißen Strumpf bekleideten linken Fuß der Frau Silbert in einer Hand, und unter ihrem weiten Rock, den ich gleichzeitig aufgehoben hatte, stand der leere Halbschuh”, beschreibt dort etwa ein Direktor Wahrlich. Naturgemäß sorgte die Broschüre für heftige Diskussionen in Graz: Maria Silbert wurde in den Medien gnadenlos als Betrügerin hingestellt. Es heißt, die zeitlebens kränkliche Frau hätte daraufhin ihre mediale Begabung verwünscht und sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Sie starb am 30. August 1936 und man vergaß die unheimlichen Begebenheiten um sie. In den ersten Monaten nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde bei Entrümpelungsarbeiten in ihrem Haus in der Schörgelgasse ein Tisch gefunden, in dessen Beinen sich eingebaute Federn befanden, die durch einen Knopfdruck an der Unterseite der Tischplatte ausgelöst werden und den Tisch springen und tanzen ließen konnten. Wie fast alle Medien ihrer Zeit scheint also auch Maria Silbert dem Übernatürlichen etwas nachgeholfen zu haben … was bei weitem aber nicht alle Erscheinungen in ihrem Umfeld erklärt, vor allem das Gravieren eines Uhrglases von der Innenseite aus.